«Die Schweiz spuckt auf ihre Geschichte»

Die Rolle der Schweiz im Gazakrieg sei beschämend, das sagen Amnesty-General­sekretärin Agnès Callamard und Uno-Sonder­berichterstatterin Francesca Albanese im grossen Doppel­interview.

Letzte Woche hat die Universität Bern eine Veranstaltung mit Ihnen beiden zum Krieg in Gaza verhindert mit der Begründung, sie sei zu wenig ausgewogen. Wie kommentieren Sie diesen Vorgang?

Agnès Callamard: Es ist beschämend, dass die Universität das Recht auf freie Meinungs­äusserung und auf akademische Freiheit nicht schützt und sich derart vor Debatten drückt. Universitäten haben die Aufgabe, ihre Studierenden mit verschiedenen Ansichten zu konfrontieren, auch wenn sie diese nicht teilen. Diese Ausladung steht symbolisch dafür, dass mit der Debatte zu Israels Krieg in Gaza etwas nicht stimmt.

Frau Albanese, Sie haben Ähnliches schon in Deutschland erlebt. Haben Sie das auch in der Schweiz erwartet?

Francesca Albanese: Ich erwarte das nirgends. Die Länder Europas rühmen sich, eine Bastion der Demokratie zu sein, die wesentlich auf der Meinungs­freiheit basiert. Entsprechend bin ich entsetzt, wenn so etwas in Deutschland passiert. Aber auch in der Schweiz. Es ist allerdings nicht neu, dass Debatten über Palästina unterdrückt werden. Schockierend ist jedoch, dass dies mitten im gewalt­tätigsten Krieg geschieht, den Israel je gegen die Palästinenser geführt hat – in dem sie den Gaza­streifen dem Erdboden gleichgemacht hat. Seit dem 7. Oktober hat Israel durch­schnittlich 90 Menschen pro Tag getötet, an manchen Tagen waren es bis zu 600. Der Küsten­streifen wird zerbombt und ausgehungert. Dass die Universität Bern eine Veranstaltung, die diese Situation aufzeigen will, als unausgewogen bezeichnet, ist ungeheuerlich. Was wäre denn ausgewogen? Dass ein angeblicher Menschenrechts­experte eingeladen würde, der diese Kriegs­verbrechen verteidigt?

Zu den Personen

Francesca Albanese ist seit Mai 2022 Uno-Sonder­berichterstatterin für die besetzten Gebiete in Palästina. In dieser Funktion hat die Juristin zahlreiche Berichte über die dortige Menschen­rechts­lage verfasst. Die gebürtige Italienerin war zuvor zehn Jahre für verschiedene Uno-Organisationen in Jerusalem, Marokko und Genf tätig. Sie hat zahlreiche wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht, vor allem zur Frage der palästinensischen Flüchtlinge. Albanese lebt in Tunis.

Agnès Callamard ist seit 2021 Generalsekretärin der Menschenrechts­organisation Amnesty International in London. Zuvor war die gebürtige Französin Direktorin des Projekts Global Freedom of Expression der Columbia University, das sich international für Meinungs­freiheit einsetzt. Auch war sie Uno-Sonder­berichterstatterin für ausser­gerichtliche oder willkürliche Hinrichtungen. Als solche hat sie auch den Fall des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi aufgearbeitet, der in der saudischen Botschaft in Istanbul ermordet wurde.

Lassen Sie uns über die aktuelle Situation in Gaza sprechen: Wie hat sich diese in den vergangenen Wochen entwickelt?

Callamard: Es ist noch klarer geworden, dass die israelische Regierung beabsichtigt, einen Völkermord zu begehen – wie wir das bereits in unserem Bericht letzten Dezember dargelegt haben. Die in der Genozid-Konvention fest­geschriebene «Absicht» ist noch klarer geworden. Israel hat den Gaza­streifen jüngst mit einer totalen Blockade für humanitäre Hilfe belegt, die 78 Tage währte. Es setzt Hunger als Kriegs­waffe ein. Es zerstört ohne irgendwelche Notwendigkeit zivile Infrastruktur. Das Militär bombardiert Wohn­gebiete und schüttet sie mit Beton zu, damit die Menschen nicht mehr zurück­kehren können. Wir dokumentieren auch eine fortschreitende Zerstörung von Ackerland. Die Absicht des Völker­mords zeigt sich auch an der Militarisierung der humanitären Hilfe: Seitdem die von Israel kontrollierte Gaza Humanitarian Foundation Nahrung verteilt, werden dabei regel­mässig Menschen erschossen. Israel veranstaltet eigentlich hunger games: Menschen riskieren, für ein Stück Brot von israelischen Soldaten erschossen zu werden. Wer heute aufrichtig hinschaut, kommt nicht mehr um die Schluss­folgerung herum, dass Israel in Gaza einen Völker­mord begeht.

Albanese: Je mehr wir über die Gaza Humanitarian Foundation wissen, desto mehr können wir sagen, dass es sich um ein kriminelles Unternehmen handelt.

Das ist ein schwerer Vorwurf. Welche Belege haben Sie dafür?

Albanese: Bei der Verteilung von humanitären Hilfs­gütern müssten gewisse Standards eingehalten werden. Unter anderem müssen die Sicherheit und die Würde der Menschen garantiert werden. Diese Grundsätze werden klar missachtet. Israelische Soldaten bestätigen, dass ihnen befohlen wurde, auf Menschen zu schiessen.

Beziehen Sie sich auf Medien­berichte oder auf eigene Untersuchungen?

Callamard: Wir haben für einen bevor­stehenden Bericht Interviews mit Zeugen geführt. Die Tötungen von Menschen bei den Verteil­aktionen der Gaza Humanitarian Foundation sind aber bereits gut dokumentiert. Ausserdem hat sich die Situation für die Menschen nicht verbessert, seit Israel die sogenannte humanitäre Hilfe übernommen hat: Die Anzahl hungernder Kinder, die Unter­ernährung der übrigen Bevölkerung, die Ausrüstung der Kranken­häuser – nichts ist besser geworden. Die Organisation stiftet Chaos und führt zur Spaltung der Gesellschaft, statt ein humanitäres Ziel zu verfolgen.

Wie müsste die humanitäre Hilfe in Ihren Augen denn organisiert werden?

Callamard: Wir fordern, dass die professionellen, etablierten Organisationen wie die UNRWA wieder die Arbeit übernehmen. Wir fordern die vollständige Aufhebung der Blockade. Und wir rufen sämtliche Regierungen dazu auf, dies ebenso laut und deutlich einzufordern.

Albanese: Israel ging es auch darum, die UNRWA zu demontieren. Dabei war sie mit ihrer flächen­deckenden Präsenz im Gaza­streifen in der Lage, die nötige Hilfe zu liefern. Siebzig Prozent der UNRWA-Gebäude wurden zerstört. Zudem wurde die UNRWA mit grösstenteils unbelegten Vorwürfen international in Verruf gebracht, sodass sich viele Staaten von der Organisation abgewandt haben. Und nun sagen Israel und die USA: «Entweder ihr arbeitet mit der Gaza Humanitarian Foundation oder es gibt gar keine Hilfe.» Das ist eine geradezu mafiöse Methode. Diese Organisation wird irgendwann zur Rechenschaft gezogen werden müssen, aber wir sollten das Hauptziel nicht aus den Augen verlieren: Die Staaten weltweit müssen dafür sorgen, dass Israels Belagerung beendet wird.

Wie beurteilen Sie die Reaktion von Aussen­minister Ignazio Cassis und der Schweizer Regierung auf den Gazakrieg?

Callamard: Die Schweiz hätte eine historische und internationale Pflicht, die sie derzeit verletzt. Sie ist das Land des humanitären Völker­rechts. Sie ist das Land von Henry Dunant, der das Internationale Komitee vom Roten Kreuz begründet hat. Er dreht sich wohl im Grab um! Die offizielle Schweiz spuckt auf ihre Geschichte. Und sie spuckt auf all die Menschen, die sich in der Schweiz über zwei Jahrhunderte lang dafür eingesetzt haben, dass Menschen im Krieg weniger leiden. Es ist beschämend.

Was werfen Sie dem Bundesrat konkret vor?

Callamard: Die Schweizer Regierung hätte die Pflicht, laut anzuprangern, was Israel im Gaza­streifen tut. Doch sie tut es nicht. Wieso schafft es die Schweiz als Herz des humanitären Völker­rechts nicht, die aktuell schlimmsten Verletzungen des humanitären Völker­rechts zu verurteilen? Das ist unglaublich. Es gibt lediglich leise Aufrufe an Israel, das Recht zu respektieren. Viele Schweizer Diplomatinnen sind über ihre eigene Regierung empört.

Albanese: Auch ich betrachte die Schweiz derzeit mit einer Mischung aus Verwunderung und Bestürzung. Israel verstösst nicht nur gegen das humanitäre Völker­recht. Es ist daran, dieses regelrecht zu zerstören. Es missbraucht dessen Terminologie als Tarnung: Es spricht von Evakuierungs­befehlen, sicheren Zonen, damit der Eindruck entsteht, die Menschen würden maximal geschützt. Es rechtfertigt auch sämtliche Tötungen von Zivilisten mit dem Vorwand, sie seien von der Hamas als Schutz­schilde eingesetzt worden. Ich habe bereits vor einem Jahr gewarnt, dass dies zum neuen Drehbuch für Kriege zu werden droht. Dass künftige Kriegs­verbrechen mit Begriffen aus dem humanitären Völker­recht getarnt würden. Die Schweiz trägt als Geburtsort des humanitären Völker­rechts mehr als alle anderen Länder eine moralische Verantwortung, dies zu denunzieren.

Sie sagen beide, dass in Gaza ein Genozid geschieht. Zahlreiche Holocaust-Forscher wie Omer Bartov teilen diese Einschätzung. Doch es gibt in der Wissenschaft auch andere Stimmen und eine breite Debatte darüber, ob dies der Fall ist.

Callamard: Eine Debatte? Wo? Ich wünschte, es gäbe eine Diskussion.

Unter Genozid­forschern gibt es durchaus eine Debatte.

Albanese: Die Analyse des Genozids in Gaza wird in der Forschung zunehmend bestätigt. Aber natürlich gibt es auch andere, die sich der Realität nicht stellen wollen.

Der grosse Diskussions­punkt ist, ob Israel eine Absicht bewiesen werden kann, die für einen Genozid gegeben sein muss.

Albanese: Richtig, ein Genozid besteht in der Absicht, eine Gruppe als solche zu vernichten. Das Individuum spielt keine Rolle mehr: Die blosse Tatsache, dass du zu einer bestimmten Gruppe gehörst, macht dich zur Zielscheibe. Und genau das geschieht in Gaza. Darum ist es wichtig, die Dinge beim Namen zu nennen und auch den Kontext zu beachten, in dem dieser Genozid stattfindet: Die Funktion dieses Völker­mords ist die ethnische Säuberung Palästinas – durch Ausrottung, durch Aushungern. Und es ist sichtbar, dass Israel die Absicht hat, alles in Gaza zu zerstören: die Gegenwart, die Zukunft und selbst die Vergangenheit.

Wie meinen Sie das, Frau Albanese?

Albanese: Israel entzieht der Bevölkerung im Gaza­streifen den Boden und zementiert die Erde, es begräbt das Leben der Palästinen­serinnen für immer. Und es macht es unmöglich, auch nur eine Erinnerung daran zu erlangen, was Gaza einmal war. Ich meine, wenn das kein Völker­mord ist, was ist dann einer?

Es scheint, dass die Staaten­gemeinschaft diesen Ruf, den auch Genozid­forscher erheben, nicht hören will. Sie kommt der vertraglichen Pflicht aus der Genozid-Konvention nicht nach, einen Genozid zu verhindern.

Callamard: Ich gebe Ihnen absolut recht. Es ist ein Armuts­zeugnis für die internationale Gemeinschaft, es ist ein kollektives Versagen, dass sie das schlimmste aller Verbrechen nicht verhindert. Wir erleben in der Tat gerade einen Epochenwechsel.

Was verschiebt sich da gerade?

Callamard: Wir treten in eine neue Ära ein. Gaza ist ein Friedhof für unsere Menschlichkeit, ein Friedhof der Palästinenser, ein Friedhof des humanitären Völkerrechts. Wir schauen einer Beerdigung zu, die überall auf der Welt übertragen wird. Und die Länder, die das humanitäre Völker­recht zu Grabe tragen, tun das im vollen Bewusstsein.

Woran machen Sie das fest?

Callamard: Dieses System wurde ab 1948 als Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg und die Schoah geschaffen. Aber dieses System scheint den Interessen vieler Super­mächte im Weg zu stehen. Sie wollen einen anderen internationalen Rechts­rahmen, der ihnen mehr erlaubt als das humanitäre Völkerrecht.

Albanese: Auch wenn die Lage düster ist, möchte ich infrage stellen, dass die Welt nicht hinhört. Viele Menschen sind verzweifelt, wenn sie nach Gaza blicken. Sie protestieren dagegen, quer durch alle Länder, quer durch alle Berufe und Generationen. Viele werden dafür bestraft und zum Schweigen gebracht. In den USA beobachten wir zunehmend sogenannte slapps, also rechtliche Schritte gegen Medien oder Menschen, die ihre Meinung äussern. Ihnen wird vorgeworfen, sie sympathisierten mit der Hamas oder seien antisemitisch.

Auch Sie werden von Israel kritisiert, Sie würden die Kriegs­verbrechen der Hamas ignorieren.

Callamard: Eine Vielzahl von Menschen­rechts­organisationen hat die Kriegs­verbrechen und Verstösse gegen das Völker­recht der Hamas vom 7. Oktober angeprangert. Das andauernde Festhalten von Geiseln ist ein Kriegs­verbrechen. Amnesty International hat die bedingungslose Freilassung aller zivilen Geiseln gefordert, unabhängig von einem Waffen­stillstand. Und wir haben auch die wahllosen Raketen­angriffe der Hamas auf israelische Städte und Dörfer angeprangert. Das haben wir in den letzten zwanzig Monaten immer und immer wieder getan. Warum wird uns also vorgeworfen, dass wir es nicht getan hätten? Um die Debatte zu manipulieren. Um davon abzulenken, was Israel in Gaza tut.

Albanese: Ich habe aufgehört zu zählen, aber es ist irgendwo aufgelistet, wie oft ich die Angriffe vom 7. Oktober verurteilt habe. Ich verlange Rechenschaft für die Anschläge vom 7. Oktober. Aber ich sage dasselbe, wenn ein Kranken­haus im Gaza­streifen angegriffen wird. Ein Zivilist ist ein Zivilist. Es darf nicht zweierlei Mass geben.

Antisemitismus wird oft instrumentalisiert. Gleichzeitig ist Antisemitismus auch eine reale Gefahr, die zu bekämpfen ist. Wie navigieren Sie zwischen diesen zwei Problemen?

Callamard: Die Kritik an Israel und Israels Kriegs­verbrechen – also an Israels Völkermord, am Apartheid­system, an der militärischen Besatzung – das ist kein Antisemitismus. Die Ermordung von zwei Menschen, die nach einer Veranstaltung aus einem jüdischen Museum in Washington kommen, wie kürzlich geschehen – das ist Antisemitismus. In seiner schlimmsten Form.

Dazwischen gibt es aber auch Grautöne.

Callamard: Die Morde in Washington haben wir bei Amnesty als einen Akt des Antisemitismus verurteilt. Aber natürlich muss etwas nicht die hohe Schwelle des Tötens erreichen, um als Antisemitismus zu gelten. Wir müssen solche Taten klar anprangern.

Die Weigerung der Uni Bern hat wohl auch damit zu tun, dass Sie, Frau Albanese, sich immer wieder gegen den Vorwurf des Antisemitismus wehren müssen.

Albanese: Israel hat fast jeden des Antisemitismus bezichtigt, der die Verbrechen und Praktiken Israels unter die Lupe nimmt – vom Uno-General­sekretär über viele jüdische Akademiker bis hin zum Papst. Und mich ebenfalls. Ich bin die Sonder­beauftragte für die besetzten palästinensischen Gebiete, es ist ganz natürlich, dass ich häufiger mit diesem Vorwurf konfrontiert werde als die General­sekretärin von Amnesty International.

Callamard: Na ja, ich werde auch immer wieder als Antisemitin beschimpft. Nach dem Apartheid-Bericht 2022 gab es grosse Kontroversen, auch nach dem Genozid-Bericht 2024 …

Albanese: Aber die Ausladung der Universität Bern hat nichts mit meiner Person zu tun, denn ich sage es immer und immer wieder: Der Antisemitismus ist eine Plage, und er muss bekämpft und verurteilt werden. Das Problem ist, dass der Vorwurf des Antisemitismus auch als Mittel dient, um abzulenken.

Callamard: Die Instrumentalisierung des Antisemitismus treibt die Unter­drückung von demokratischen Grund­rechten voran. Der Raum für Dissens und Meinungs­freiheit schrumpft. Extremismus- und Antiterror­gesetze werden insbesondere gegen drei Arten von Aktivistinnen eingesetzt: propalästinensische Aktivisten, Klima­aktivistinnen und Aktivisten für Rechte von Migranten. Die Instrumentalisierung des Antisemitismus ist heute zentral für die Unter­drückung von Grundrechten. Sie ist die Waffe, mit der derzeit etwa unter Trump in den USA die akademische Freiheit und das Recht auf Meinungs­äusserung verletzt werden. Wir müssen darum beides benennen und anprangern: Antisemitismus selbst und genauso seine Instrumentalisierung.

SOURCE – REPUBLIK-MAGAZIN

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